@narchie
In der politischen Theorie spielen zwei Bedeutungen eine Rolle: Anarchie als Gesellschaft ohne Staat, und Anarchie als Gesellschaft ohne Herrschaft. Beide Definitionen sind abhängig von weiteren Definitionen: um Anarchie zu definieren müssen wir Staat bzw. Herrschaft definieren. Ich ziehe die erste vor. Die zweite verführt zu fruchtlosem ideologischen Streit darüber, was Herrschaft ist.
Es gibt noch weitere Varianten wie Gesellschaft ohne Regeln, oder umgangssprachliche Bedeutungen a la Chaos, welche mit dem hier verwendeten Anarchiebegriff nichts zu tun haben.
Gesellschaft ohne Staat:
der Staat als Organisation mit Gewaltmonopol Bei der Definition des Staates gibt es allerdings die geringeren Schwierigkeiten. Der Staat ist eine Organisation mit Gewaltmonopol, eine Organisation legitimierter Gewalt.
Weiterhin besteht auch Einigkeit darüber, dass die Monopolrechte des Staates nicht auf einem expliziten Einverständnis der Bürger beruhen. Es gibt allerdings die Theorie vom Sozialvertrag (die ich ablehne) die argumentiert dass ein solches Einverständnis implizit zustande kommt. Dies ändert nichts daran dass das Gewaltmonopol des Staates auch von der Theorie des Sozialvertrags nicht bezweifelt wird.
Normalerweise können wir somit recht eindeutig und unideologisch entscheiden, ob in einem Gesellschaftsmodell oder einer konkreten Gesellschaft ein Staat vorliegt oder nicht. Man muss die bestehenden Rechte, Gewalt anzuwenden, untersuchen.
Gesellschaft ohne Herrschaft:
der wertende Charakter des Herrschaftsbegriffs Kann man den Begriff "Herrschaft" überhaupt in irgendeiner Weise objektiv definieren? Versuchen kann man es vielleicht, und in diesem Fall kommt man kaum an der Goldenen Regel vorbei. Wenn die Goldene Regel nicht akzeptiert wird, wenn jemand einem anderen etwas antut, von dem er nicht will, dass man es ihm antut, können wir kaum von einem herrschaftfreien Verhältnis sprechen. Herrschaftsfreiheit und Goldene Regel sind somit zumindest eng verbunden. In diesem Sinne könnte man vorschlagen, Herrschaft als einen Verstoss gegen die Goldene Regel zu definieren. In diesem Fall wäre die Bezeichnung Golden-Rule-Anarchie ein weißer Schimmel. Jede Anarchie müsste laut Definition immer eine Golden-Rule-Anarchie sein.
Einen allgemeinen Definitionsanspruch auf den Begriff Herrschaft will ich jedoch gar nicht erst stellen. Warum? Weil ich jeden Streit über eine "Definition von Herrschaft" für eine gefährliche Sackgasse halte. "Anarchie" wie auch "Staat" haben an sich keinen wertenden Charakter. "Herrschaft" hat hingegen einen weitaus stärkeren negativ wertenden Charakter. So fühlen sich Demokraten durchaus (und mit Recht) auch moralisch angegriffen, wenn man Demokratie als Herrschaft der Mehrheit bezeichnet. Eine Definition sollte jedoch einfach sein. Beides zusammen ergibt das Problem, moralische Wertungen nach einfachen Regeln zuzuschreiben. Das dabei nicht weiter rauskommen kann als Streit zwischen grob vereinfachenden Ideologien ohne jede Chance auf Kompromisse ist logische Folge dieser Aufgabenstellung.
Dies kann man in der Praxis sehen. Die Frage, ob ein Arbeitsverhältnis im Kapitalismus ein Herrschaftsverhältnis ist, führt regelmäßig zu einem moralisch aufgeheizten Streit zwischen "Kapitalisten" und "Kommunisten" (ohne jede Zwischentöne). Wobei ja gegen Streit nichts zu sagen wäre, wenn etwas herauskommen könnte - hier kann nichts interessantes herauskommen.
Gesellschaft ohne Regeln: was soll das sein?
Manchmal trifft man auch die Auffassung, Anarchie bezeichne eine Gesellschaft ohne Regeln. Vielleicht ist hier eine Gesellschaft ohne einheitliche allgemein verbindliche Regeln. Dies wäre noch eine einigermassen verständliche Definition. Trotzdem ergibt dies bereits logische Probleme - ist es denn für diese Gesellschaft keine allgemeine Regel, dass es keine allgemeine Regeln gibt? Ansonsten - Regeln ergeben sich automatisch auch beim Zusammenleben freier Menschen. Man einigt sich über irgendetwas - und schon ist eine Regel entstanden. Mit anderen Worten - ich kann mit dieser Definition nichts sinnvolles anfangen. Wer so ein Konzept verteidigen möchte, möge es tun. Vermutlich wird das niemand, da diese Definition eher von Gegnern der Anarchie kommt, die sie auch nur für sinnlos halten.
Ich kann nur feststellen, dass es in meinem Gesellschaftsmodell eine allgemeine Regel gibt - nämlich die Goldene Regel. Nach dieser Definition - was immer sie bedeuten mag - wäre die GoldenRuleAnarchie keine Anarchie.
Text geborgt bei: http://www.ilja-schmelzer.de/Anarchie/Anarchiedefinition.html