GPN6:Sex, Lügen und Überwachung - Zeitzeugen packen aus
Lesung von Daniel Kulla auf der GPN6.
Frühjahr '07. Rauch erfüllte den Raum, frischgebrühter Kaffee dampfte, die Dreierrunde in die Stühle zurückgelehnt.
"Damals in den sechziger Jahren, bevor alles anfing, hätten wir uns nicht träumen lassen, daß wir dereinst Staatsämter bekleiden würden", sagte Christian, der Älteste am Tisch und nahm einen tiefen Zug. "Zu meiner Zeit, die etwas später lag, hätten wir zumindest nicht geglaubt, daß wir diesem Staat dienen würden", antwortete Michael und schenkte sich Kaffee nach. Beide lachten herzlich. Matthias, der auch noch Michaels Sohn hätte sein können, blickte auf die Kaffeekanne und schmunzelte: "Durchaus hingegen hättet ihr beide geglaubt, eines Tages Personal zu haben, das euch nachschenkt." Die Heiterkeit setzte kurz aus, dann lachten jedoch alle drei.
"Ich lasse manches Mal meine Gedanken schweifen und frage mich, was aus den Kampfgefährten von damals geworden ist. Der Fritz in der Kanzlei, Otto gleich Sekretär..." Christians Blick verklärte sich, er seufzte. Beipflichtend nickte Michael: "Allesamt arriviert, untergekommen, in Lohn und Brot und Amt." Christian hob den Zeigefinger: "Bis auf die wenigen, die verbannt und verhaftet sind." "In Festungshaft!" sagte Matthias lauter und die beiden anderen wurden still. Wenn es um die Vergangenheit ging, wurde es öfter schwierig in der Runde. Matthias, der immer noch eine Art Schattenexistenz führte und sich auf alte Verbindungen verlassen mußte, warf den Freunden gelegentlich Verrat vor; diese reagierten zumeist betreten, weil er ihren biographischen Frieden störte.
Um einen Eklat zu vermeiden, versuchte Michael eine auflockernde Bemerkung: "Früher hatten sie vor uns Angst, heute zittern wir vor der Enttarnung." "Ach", winkte Matthias ab, "ihr braucht nicht mehr zu zittern und ich..." Er hielt inne und setzte einen stolzen Blick auf, der zu sagen schien, daß er kein Mitleid bräuchte.
Die drei nippten am Kaffee.
Christian schien in seiner nostalgischen Wohllaune weniger gestört und verkündete nach einer kurzen Pause: "Wir haben der Alten Töchter gefreit!" "Ja, ob sie wollten oder nicht..." Matthias' Stimme klang mittlerweile aggressiver. Ein heftiger Streit kündigte sich darin an. Noch einmal wählte Michael eine versöhnliche Erwiderung: "Sicher kann man sagen, wir waren einfach jung und viele und wollten unseren Teil vom Kuchen. Und vorm Kuchen standen die Alten." "Und eure schönen Frauen waren ein Teil vom Kuchen?" Matthias merkte, daß er in seiner wachsenden Aufregung weniger kritisch klang als neidisch und fügte hinzu: "Habt ihr ihnen gesagt, wir holen euch aus dem elterlichen Gefängnis und sperren euch bei uns zu Hause ein?" "Matthias! Ich möchte dich bitten, dich zu zügeln!" Christian klang jetzt, trotz seines immer noch zurückhaltenden Tons, als wäre er wirklich Matthias' Vater. "Wir wollten uns über die alten Zeiten unterhalten und nicht mitanhören, wie du deinen Junggesellen-Ärger an uns ausläßt." Matthias wollte etwas erwidern, besann sich jedoch und blickte zu Boden.
Michael legte ihm eine Hand auf die Schulter und sagte: "Du mußt verstehen, worum es uns ging, gegen wen es ging. Die Alten, die nach dem Kriege an der Ordnung klebten und nicht aufräumen wollten im Staate. Die für ein gutes Auskommen ihre Freiheit verkauften und deren Gesinnung der volle Bauch wurde." Matthias schüttelte die Hand ab und wurde wieder laut: "Und wie steht es mit eurem Bauch und eurer Ordnung und eurem Auskommen?" "Wir wollten die Welt verändern!" rief Michael aus. "Und wir haben die Welt verändert", bestätigte Christian. "Habt ihr das? Ich meine, wäre es nicht ohne euch auch gegangen? Und ist es überhaupt die Änderung, welche ihr erstrebt habt?" "Sieh doch nur", sagte Christian immer noch betont ruhig und freundlich, "die Alten sind entmachtet und beschämt, überall sitzen nun die Unsrigen!" "Und tun sie dort Unsriges?" fragte Matthias. "Beziehungsweise Euriges?" "Lieber Freund, das Unsrige tun sie, so wie wir." Jetzt sprach Christian auch lauter: "Es waren doch deine Leute, die es dann plötzlich für verfehlt und aussichtslos hielten, den Staat allmählich zu unterwandern. Ihr wolltet doch den bewaffneten Umsturz und die Fortsetzung des Terrors. Das lehnte ich damals ab und lehne es heute ab." Matthias war nun in Fahrt: "Weil du nie etwas riskieren wolltest und weil du dich rechtzeitig aus der Schußlinie bringen konntest! Doch bei dir, Michael, war das doch anders, du hattest doch verstanden, daß sich was ändern muß und daß das nicht einfach so passieren würde." "Ich bitte dich", bekam er zur Antwort, "du weißt nicht, wovon du sprichst, du warst noch zu jung. Der Terror, das waren doch die anderen, das waren doch nicht unsere Leute, weder damals noch heute. Robespierre war doch nicht einmal Freimaurer gewesen."
Doch Matthias ließ sich in seinem wütenden Ausbruch nun nicht mehr bremsen: "Ihr habt die Idee verraten und euch in Sicherheit gebracht. Und nun gibt's auch noch jene, die den Welteroberern zujubeln." Matthias holte ein Flugblatt hervor und faltete es auf. "So der Krieg für die Befreiung geführt wird, muß er von allen fortschrittlich Gesinnten begrüßt werden!" las er vor. "Allzuoft kam die Freiheit getragen von Bajonetten! Heißen wir die Führungsmacht der Zivilisation willkommen!"
"Siehst du nicht ein", fragte ihn Michael, "daß die Veränderung Zeit braucht, daß nicht jedes Land dafür geschaffen scheint, sie selbst ins Werk zu setzen? Daß es nützlich sein kann, wenn von außen nachgeholfen wird?"
Matthias war eingeschnappt. Er verschränkte die Arme vor der Brust und sagte trotzig: "Hättet ihr das Land wirklich verändern wollen, hättet ihr's geschafft. Und dann müßten die Zivilisationskrieger nicht nachhelfen."
"Doch du machst jetzt gegen sie Stimmung", sagte Christian. "Ich warne dich, das könnte sich noch als verhängnisvoll erweisen. Wenn du darauf bestehst, daß jedes Volk seine Befreiung selbst bewerkstelligen muß, daß sie sich also gegen die Große Streitmacht aus dem Westen wenden sollen, dann siegt womöglich ein Programm, daß gegen die Revolution und gegen die Aufklärung gerichtet ist. Du begünstigst eine konterrevolutionäre Revolution und es ist nicht auszudenken, wo uns das hinführen wird!"
Die letzten Worte waren von Pathos erfüllt, drohend und doch vernünftig.
Matthias dachte nach. Kleinlaut sagte er schließlich: "Ich kann einfach nicht mehr auseinanderhalten, wer auf welcher Seite steht. Auch bei euch, meinen Freunden, bin ich mir nie wirklich gewiß, wie ernst es mit den Parolen von Freiheit, Revolution und Aufklärung ist. Ich suche euch zu provozieren, um mir Gewißheit zu verschaffen. Denn ich bin tatsächlich auf euch angewiesen. Ohne eure Unterstützung flöge ich auf oder müßte mittellos dem Abstieg entgegensehen. Es ist, als hätten sich die guten Ideen von einst gegen uns gewandt, zumindest gegen mich. Nicht nur die Spitzel künden von Enttarnung. Ihr wißt, daß es uns einst darum ging, Licht ins Dunkel zu bringen, alles sichtbar zu machen. Nun gibt es einflußreiche Berater, die neue Gebäude entwerfen, in denen jeder Winkel überwacht werden kann. Sie sagen, der aufgeklärte Staat, den wir ja nun haben, hat das Recht, von allen jederzeit Auskunft und Rechenschaft zu verlangen."
"Ich kann deine Sorge verstehen", sagte Michael. "Es hat eine Veränderung stattgefunden, aber es ist nur teilweise die Veränderung, die wir erstrebten. Oder vielleicht ist es eher so, daß wir uns vieles, was geschehen ist, vorher nicht hätten vorstellen können. Du hast recht, der Staat maßregelt seine Untertanen und mit den Freiheiten ist es nicht weit her. Doch sowohl der Staat als auch alle alten Mächte haben ihr Informationsmonopol verloren. Jedermann kann veröffentlichen oder mindestens in Umlauf bringen, was er denkt. Die Wissenschaften sind allgemein zugänglicher Rohstoff. Es steht dem Einzelnen jede Möglichkeit offen, die Lügen und Verblendungen zu prüfen und zu durchschauen. Der Staat mag alles durchleuchten, doch auch seine Untertanen lernen den Umgang mit dem Licht."
"Ihr könnt es euch wohl schönreden, und vielleicht stimmt es, der Bürger läßt sich nicht länger irreführen. Doch das hat er als allerletztes euch zu verdanken. Ich weiß, wie es bei euch zuging, bevor ich hinzukam. Auch in den achtziger Jahren waren noch einige bei uns, die die Bewegung von ihren Anfängen her kannten. Und die sahen anders aus, als Christian sie immer zu zeichnen versucht. Da ging es wenig um Freiheit und viel um den bedingungslosen Glauben an eine Idee, die man nicht völlig verstand und auch nicht verstehen durfte. Bode hat mir vor seinem Tode manches erzählt, er ging selbst, wie du, Christian, erst zur Strikten Observanz über. Und während die Freimaurer, inspiriert von ihren englischen Vorbildern, den Free-Masons, sich um den Staat und die Monarchie herum organisierten, um sich über Standesgrenzen hinweg treffen zu können, ging es beim Tempelritter-Hokuspokus der Strikten Observanz eben um diese, um strenge Unterwerfung. Wer oben an der Spitze stand, konnte euch jeden Quatsch erzählen, ihr dachtet, es wäre das alte Geheimnis aus Ägypten, da wäre schon was dran."
"Indes hat sich niemand so leidenschaftlich unterworfen wie dein lieber Bode", bemerkte Christian. "Aber willst du behaupten, daß es auch später unter" - wie aus alter Gewohnheit blickte er an dieser Stelle um sich - "Weishaupt und Knigge in unserem Illuminatenorden nicht um die Freiheit gegangen wäre?"
"Was soll ich sagen, ich bin nie über die untersten Ränge hinausgekommen. Doch wenn ich mir ansehe, was aus euch allen geworden ist, scheint es wichtiger gewesen zu sein, den Staat zu übernehmen und ihn vielleicht ein bißchen vernünftiger zu betreiben, als auch hier in Bayern etwas Vergleichbares wie die Fränkische Revolution zu versuchen."
"Ach je", machte Michael, "hat Bode etwa auch dir erzählen wollen, er hätte die Französische Revolution ausgelöst? Das ist doch abgeschmackt und peinlich!"
"Ich gebe zu, daß ich ihn erst so verstanden habe", räumte Matthias ein. "Bode berichtete aus Paris, als er zwei Jahre vorm Sturm auf die Bastille beim französischen Orden der "Amis réunis" weilte, wie sie seine Ideen übernommen hätten, wie sie den Kostümen und Kulten abschworen und sich der heiligen Vernunft verpflichteten. Er schilderte es so, wie er es sich für seine deutschen illuminatischen Ordensbrüder erhoffte. Man würde einer eingeschworenen und schlagkräftigen Gemeinschaft einfach von ganz oben ein anderes Programm eingeben, statt der langsamen Unterwanderung eben den republikanischen Aufstand. Heute ist mir klar, daß es alles zu sehr nach seinem Wunsch klang, um wahr zu sein. Ob er sich selbst davon überzeugen konnte oder nur dachte, es würde schon passieren, wenn er nur behaupten würde, es passierte - ich weiß es nicht."
Michael sagte vorwurfsvoll: "Ihm haben wir jetzt auf jeden Fall zu verdanken, daß es die Verschwörungstheorie gibt, daß die Barruels und Robisons uns hinter allem Übel der Welt wähnen und unsere liebe bayerische Regierung zur Illuminatenherrschaft und zum Reich des Antichristen erklären."
"Bode hat etwas gewagt, er wollte aus eurem Elitenorden eine demokratische Kampfpartei machen. Er mag gescheitert sein und aus heutiger Warte vielleicht lächerlich wirken - doch seht euch an! Ihr haltet still und hofft, die These von der Verschwörung mag an euch vorbeigehen, der liebe Minister Montgelas euch im Amt belassen, die Franzosen euch zu Hilfe kommen. Wenn die Konterrevolutionäre geifern, in Bayern würden die Illuminaten herrschen, dann herrscht doch wie Illuminaten! Dann tragt doch das Licht in die Welt und fegt den Aberglauben und die Stände und die Herrscher davon!"
Christian legte seine Zigarre beiseite und machte eine beschwichtigende Geste: "Wenn du bitte nicht so schreien würdest, teurer Matthias, ich möchte dir erklären, warum wir das nicht tun, aber ich möchte nicht vorher von den Zuträgern unseres lieben Montgelas verhaftet werden. Mag sein, daß uns die Verschwörungs-Propaganda der Engländer und ihrer Informanten eingeschüchtert hat. Mag sein, daß uns auch zu Kopfe gestiegen ist, daß sie uns immer noch für Illuminaten halten. Nur", er machte eine bedeutungsvolle Pause, "wir sind keine Illuminaten mehr. Den Orden gibt es nicht mehr. Für mich schon seit zwanzig Jahren, für den lieben Michael beinahe genauso lange. Selbst Bode, als er im 93er Jahr starb, sah den Orden erloschen."
Matthias brauste gleich wieder auf: "Aber ist denn deswegen auch das Licht erloschen?" Dann, sich beherrschend: "Sind denn die Ideen gestorben?"
"Nein, natürlich nicht. Sie haben sich aber, und bitte schrei jetzt nicht Verrat, gewandelt. Du weißt, daß der Orden schon vier Jahre vor der Revolution verboten worden war. Daß er spätestens im 87er Jahr nicht mehr in seiner ursprünglichen Form existierte. Daß wir alle uns tarnen mußten oder Gefahr liefen, vor die Inquisition zu kommen."
"Nun gut", wandte Michael ein, "die wenigsten wurden wirklich gerichtet. Nur einige hat man verbannt. Und die noch in Haft sind, hatten sich anderes zuschulden kommen lassen als nur im Orden zu sein. Aber fahr fort, Christian."
"In dieser Situation haben wir alle viel nachgedacht. Über den bayerischen Staat. Über die bayerischen Menschen. Über die benachbarten deutschsprachigen Länder. Wir beobachteten aus dem Verborgenen aufmerksam die Ereignisse. Wir sahen, was in Frankreich geschah und fanden es erst herrlich, dann furchterregend.
Wir sahen, wie in den deutschen Landen nichts geschah, auch wenn wir auf die Mainzer Republik hofften, auf die österreichische Jakobinerverschwörung. Doch es wurde immer klarer, daß einer Revolution zuviel entgegenstand. Daß die Konterrevolution gut gerüstet war und in ihrem Wahn, uns als Antichristen zu diffamieren, höchst erfolgreich. Daß die englische Kriegskasse prall gefüllt war und für eine ganze Armee von Spitzeln und Propagandisten auf dem Kontinent ausreichte.
So waren wir froh, als hier in Bayern die Verfolgungen aufhörten und wir in bescheidenem Maße auf neugewonnenen Posten wirken konnten. Im großen und ganzen jedoch, das brauchst du uns nicht vorwerfen, Matthias, warteten wir ab und das tun wir immer noch. Wir bezahlen und decken deine republikanischen Lesegesellschaften, wir richten eine staatliche Erziehung ein, wir wahren gute Beziehungen zu Frankreich.
Doch wir wissen, daß es nun spätestens mit der Verschwörungsthese, die sich wie ein Lauffeuer in allen Ländern verbreitet, nur noch zwei Wege der künftigen Entwicklung gibt. Entweder Napoleon reitet weiter, stößt die Monarchen Europas vom Thron, stiftet Verfassung und Gesetz und schlägt die Engländer. Oder England triumphiert und auf dem Kontinent geht alles verloren, die Revolution und die Freiheit, schlimmer noch, wenn es den Konterrevolutionären gelingt, ihre Propaganda vom Antichristen, von der Verschwörung und von verfallenden Sitten populär zu machen, landen wir vielleicht im dunkelsten Mittelalter, wenn nicht in vorzeitlicher Barbarei."
Nachdenklich fügte Michael hinzu: "Anfangs waren wir sehr erpicht darauf, daß dereinst unsere großen Taten in den Geschichtsbüchern stehen würden. Wir wollten vielleicht nicht den Ruhm zu Lebzeiten, doch den Nachruhm. Heute tun wir alles, um in den Geschichtsbüchern am besten nicht vorzukommen."
"Das ist feige. Gerade jetzt, wo die Niederlage der preußischen Schergenarmee bei Jena und Auerstedt vielen die Augen geöffnet hat und gezeigt hat, daß wir handeln müssen, daß es eine Armee des Volkes braucht, um die französischen Besatzer zu verjagen. Deutschland wird endlich erwachen!"
"Matthias", sagte Christian, "wenn dein geheiligtes Deutsches Reich nur aufwacht und aufsteht, um ausgerechnet die Franzosen zu vertreiben und sich gegen sie aufwirft, gegen den Inbegriff der Zivilisation, dann werde ich alles in meiner Macht Stehende tun, damit zumindest hier in Bayern alle weiterdösen. Laß es mich noch düsterer formulieren: auch wenn es hundert Jahre dauern mag, so werden diese Deutschen, zu denen du sprechen willst, zumindest hier solange nicht aufwachen, solange noch ein illuminatisch Gesinnter im Staatsamt steht."
"Ich verstehe nicht, woher dein böser Blick auf deine einfachen Landsleute rührt. Es war das einfache französische Volk, das alles in Bewegung setzte. Es wird das einfache deutsche Volk sein, daß sich nun gegen den Usurpatoren der französischen Republik erhebt."
"Mein lieber Freund", Christian klang nun abgeklärt und auch etwas hoffnungslos, "das Volk erhob sich wegen des Brotes, die Revolution jedoch brach sich wegen der Freiheit Bahn, von der nicht viele einen Begriff hatten. Hierzulande sind es gar noch weniger.
Die von der Verschwörung reden, konnten sich nie eine andere Menschengemeinschaft vorstellen. Wo sie hörten, diese Herrschaft solle verschwinden, meinten sie, alle Herrschaft verschwände und das Chaos würde hereinbrechen. Wurde von den Philosophen die heilige Schrift angefochten, meinten sie, alle würden sogleich von jeder Sitte und Moral abfallen und sich Satanas unterwerfen. Bekamen sie mit, daß wir Bürgerskinder uns mit den Adelstöchtern einließen, phantasierten sie sogleich Orgien und okkulte fleischliche Prozeduren.
Das Üble daran ist, so scheint mir, daß uns diese Gespensterseher letztlich davor warnen, was beim gemeinen Volk an Aberglauben umgeht und was sich also beim erneuten Versuch der Revolution alles gegen uns wenden wird."
"Sie haben wohl auch einfach Angst, es könnte wie wieder wie früher im langen Krieg der Konfessionen sein, sie halten zum Staat auch weil er ihnen für Sicherheit gilt." Matthias blickte etwas verstohlen zu den beiden Älteren hinüber. "Nur mal unter uns, ich habe ja wie gesagt erst spät und dann nicht viel vom Orden mitbekommen." Er suchte nach Worten. "Haben denn die Konterrevolutionäre völlig Unrecht, wenn sie behaupten, es habe bei euch Illuminaten, nun ja, Ausschweifungen gegeben?"
Michael und Christian schauten sich verwirrt an. "Es war eigentlich ein sehr sittenstrenger Orden, alle betont würdevoll, nüchtern und ernst", fing Michael an.
"Eigentlich?" Matthias ließ nicht locker.
"Es sind Gerüchte", sagte Christian schließlich entschieden, "ausgestreut von Menschen, die ihre eigenen schmutzigen Phantasien unter dem Vorwand der sittlichen Warnung ausbreiten. Das hat gerade in der kirchlichen Geschichte eine lange Tradition."
"Aber an jedem Gerücht ist doch irgendwas dran, oder? Ging es wirklich nur um die standesübergreifende Liebe?"
Christians Miene erstarrte, als er nun deklamierte: "Ich bestehe darauf, daß es sich um Gerüchte handelt. Es hat keine Orgien gegeben. Es hat keine geheime Sexualmagie gegeben. Wir haben den Weg zur Erleuchtung nicht durch den Akt der fleischlichen Liebe gesucht. Ebensowenig hat es satanische Rituale gegeben. Wir haben kein Blut aufgefangen von den Tieren, die wir im übrigen auch gar nicht geschlachtet haben. Äh. Es wird von unseren Gegnern ein groteskes Bild gezeichnet, das unsere Liebe, also die Liebe zum anderen Geschlecht, gottgewollt zum Zwecke der Fortpflanzung, beschmutzen soll und..."
"Du bist wirklich nie über die unteren Ränge aufgestiegen?" fragte Michael.